Wissenschaft

GESCHICHTE

der Alchemie

Alchemie - eine traditionelle wissenschaft

Aus Hermes Nr. 18

Jede Art von zufälligem oder im heutigen Sinne experimentellen Charakter wird daher von vornherein ausgeschlossen. Dabei eignet sich die Alchemie ebenso wie die Astrologie oder die Medizin dazu, um den gänzlich anderen Wesenszug dieser, verglichen mit den in der Neuzeit entstandenen Wissenschaften aufzuzeigen. Und auch wenn es heute noch Personen gibt, die sich mit der Alchemie oder der Astrologie befassen, so kann dies in der großen Mehrzahl der Fälle nichts anderes sein als eine Tätigkeit ganz anderer Art unter gleichem Namen.

Folgt man der landläufigen Meinung der Wissenschaftsgeschichte, so war die Alchemie nichts weiter als ein Vorläufer der modernen Chemie. Tatsächlich soll gar nicht bestritten werden, dass einige Personen, die den tieferen Sinn der alchemistischen Schriften nicht verstanden, diese wörtlich nahmen und in der Gier nach Gold diese nur in ihrem materiellen Sinne auslegten und dann durch zumeist regelloses Experimentieren tatsächlich zu einigen Ergebnissen kamen, die dann die Anfänge der modernen Chemie bildeten. In dieser Hinsicht ist die Alchemie tatsächlich der Vorläufer der modernen Chemie. Es ist aber bezeichnend, dass diese Personen, von den wahren Alchemisten verächtlich als Kohlenbrenner bezeichnet, im Sinne der Alchemie Außenseiter waren, die den Sinn der Schriften nie durchdrungen hatten. Dass die Verwendung von Stoffen aus der Natur in der Alchemie eher beiläufigen Charakter hatte und mehr Nachweis der geistigen Befähigung des Operanden als eigentlicher Selbstzweck war, wird von den Vertretern der Chemie gänzlich übersehen. Gerade die beliebige Wiederholbarkeit eines Experimentes von jedweder Person zu jeder Zeit ist es ja, die einen Eckpfeiler der modernen Naturwissenschaft bildet. Ein Einfluss des Experimentierenden auf das Experiment, der über eine bloß handwerkliche Fähigkeit hinausgeht, wird damit von vornherein ausgeschlossen. Aus der Sicht der heutigen Chemie stellen dann auch die von geheimnisvollen Alchemisten bis in die Neuzeit nachweisbaren Transmutationen von Metallen nichts weiter als Sinnestäuschungen der Beteiligten dar.

In seinem Buch "Die Krise der modernen Welt" hat Guénon die wesentlichen Punkte aufgeführt, die für eine traditionale Wissenschaft bestimmend sind. So ist die Erkenntnis im Rahmen einer traditionalen Wissenschaft immer auch Erkenntnis einer höheren Wahrheit. Da hierbei die Erkenntnis durch einen Prozess einer aktiven Identifikation zwischen Erkennendem und Erkanntem erfolgt, heißt etwas erkennen auch gleichzeitig immer etwas sein. Die Erkenntnis ist dabei absolut, ohne Grade oder irgendwelche Annäherungen. über den Wahrheitsgehalt zu diskutieren ist ebensowenig sinnvoll wie bei einer einfachen Erfahrungstatsache, wie zum Beispiel dem Schmerz. Der traditionalen Wissenschaft kommt dadurch ein unfehlbarer Charakter zu, der sich auf die geistige Würdestellung einer Person stützt. Es dürfte klar sein, daß der Wahrheitsgehalt auch nur von einer Person überprüft werden kann, die selbst in sich gewisse Prinzipien verwirklicht und damit die notwendigen Voraussetzungen geschaffen hat, selbst zu einer Erkenntnis fähig zu sein. Dem demokratischen Charakter der modernen Wissenschaft, der die Überprüfung für jedermann zulässt, der sich den notwendigen Studien unterzogen hat, steht der grundsätzlich hierarchische Charakter der traditionalen Wissenschaften gegenüber.

Die moderne Wissenschaft besteht aus einem System von Begriffen, Beziehungen und Hypothesen, die sie durch Experimente beweisen will. Da der Experimentierende in das Experiment aber nicht unmittelbar über den Erkenntnisprozess einbezogen ist, gerät das Ganze zu einer abstrakten und leblosen Angelegenheit. Das Moment der inneren Erfahrung im Sinne eines "so ist es" fehlt völlig. Ein Experiment kann eine Hypothese auch niemals beweisen, sondern bestenfalls nicht widerlegen. Der von Grund auf zufällige Charakter bleibt somit stets bestehen, was allein schon durch die Tatsache belegt wird, daß eine Hypothese nie als endgültig angesehen werden kann. Eine bessere Hypothese in der Zukunft ist niemals ausgeschlossen. Selbst wenn sich dabei zufällig eine Übereinstimmung zwischen traditionaler und moderner Wissenschaft ergeben sollte, so kommt beiden Erkenntnissen nicht die gleiche Bedeutung zu.

Die moderne Wissenschaft stützt sich auf das beschränkte menschliche Ich und den Verstand, welcher die Wirklichkeit immer aufgliedern muss, um etwas erfassen zu können. Den anschließenden Versuch, daraus eine Erkenntnis des Ganzen zu formen, hat schon von Goethe im Faust als unzureichend beschrieben. Er schreibt dort:

Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben
Sucht erst den Geist heraus zu treiben.
Der hat die Teile in der Hand.
Fehlt leider! nur das geistige Band.

Die Erkenntnis erfolgt also immer schrittweise und nacheinander. Gleich dem Scheinwerferkegel einer Taschenlampe vermag es auch der menschliche Verstand immer nur, Teilbereiche zu erleuchten. Der Versuch aus dem Niederen, also dem verstandesmäßig Erkannten, das Höhere, also das geistige Band, abzuleiten, muss fehlschlagen, da sich nur im Höheren, als dem Ursprung des Niederen, der gesuchte Zusammenhang finden lässt. Das menschliche Ich und seine rationale Erkenntnisweise können die Ebene der Zusammenhänge und Ursachen überhaupt nicht erreichen.

In dem Roman "Das grüne Gesicht" lässt Gustav Meyrink eine Person folgendes sagen: "Die Geschichte mit der Ursache und der Wirkung verhält sich, scheint mir, ganz anders. Ursachen können wir nie erkennen; alles, was wir wahrnehmen, ist Wirkung. Was uns Ursache zu sein scheint, ist in Wahrheit nur ein Vorzeichen. Wenn ich diesen Bleistift hier loslasse, wird er zu Boden fallen. Dass das Loslassen die Ursache des Herunterfallens ist, mag ein Gymnasiast glauben, ich glaub's nicht. Das Loslassen ist einfach das untrügliche Vorzeichen des Herunterfallens. Jedes Geschehnis, auf das ein zweites folgt, ist dessen Vorzeichen. Ursache ist etwas vollständig anderes. Allerdings bilden wir uns ein, es stünde in unserer Macht, eine Wirkung hervorzubringen, aber es ist ein unheilvoller Trugschluss, der uns die Welt beständig in einem falschen Licht sehen lässt. In Wahrheit ist es nur ein und dieselbe geheimnisvolle Ursache, die den Bleistift zu Boden fallen macht und mich kurz vorher verleitet hat, ihn loszulassen. Eine plötzliche Denkänderung des Menschen und ein Beben der Erde kann wohl die gleiche Ursache haben -  aber dass das eine die Ursache des anderen wäre, ist vollkommen ausgeschlossen, so plausibel es auch dem "gesunden" Verstand dünken mag. Das erste ist genauso wenig Wirkung wie das zweite; eine Wirkung ruft die zweite niemals hervor - kann, wie gesagt, ein Vorzeichen sein in einer Kette von Geschehnissen, aber sonst auch nichts. Die Welt, in der wir leben, ist eine Welt der Wirkungen. - Das Reich der wahren Ursachen ist verborgen; wenn es uns gelingt, bis dorthin vorzudringen, werden wir zaubern können."

Genau diese von Meyrink beschriebene Welt der Ursachen ist es, auf die der Alchemist, wenn er mit Stoffen aus der Natur arbeitet, mit seinen Operationen einwirkt. Nicht die sinnlich wahrnehmbare Materie wird als Ausgangspunkt der Arbeiten genommen, sondern die davorliegenden kosmologischen Prinzipien, denen der Stoff gehorcht und die sein Auftreten in der Erscheinungswelt bestimmen. Die Natur der Stoffe selbst wird verändert. Der Alchemist muss fähig sein zur Erlangung eines bestimmten Bewusstseinszustandes, der dem psychischen Aspekt der stofflichen Dinge entspricht. Das dann folgende innere und äußere Arbeiten ermöglicht die Umwandlung der Stoffe. In der heutigen Chemie dagegen werden bereits fixierte Stoffe verwendet und die Einwirkung erfolgt nur auf der stofflichen Ebene selber. Durch die Zersetzung der Stoffe entstehen dabei keine Umwandlungen der Naturen, sondern deren Zerstörung.

Das, was heutzutage vielfach unter Alchemie firmiert, hat mit der Alchemie in den meisten Fällen nichts zu tun. Die Alchemie setzt immer einen Operanden voraus, der bis zu der Welt der Ursachen vordringen kann und mit dieser Fähigkeit die Voraussetzung zur Durchführung eines alchemistischen Prozesses besitzt. Es ist klar, dass damit die Messlatte für eine alchemistische Betätigung sehr hoch gelegt ist. Mit den geistigen Verirrungen der heutigen Zeit konnte es aber auch nicht ausbleiben, dass auch die Alchemie im Rahmen der modernen Esoterik eine Renaissance erleben würde. Nachdem das erste Missverständnis der Alchemie in einer rein materiellen Auslegung bestand, sollte unter anderem die Alchemie in der neueren Zeit den Hintergrund für eine Wissenschaft abgeben, in die sogenannte geistige Prinzipien wieder eingearbeitet worden sind. Diese heutige Alchemie passt aber eher in das Schema der modernen Wissenschaften, als dass sie die Kriterien einer traditionalen Wissenschaft erfüllt, und stellt nichts weiter als eine Abirrung dar.

(me)

  1. Vgl. René Guénon, La Crise du monde moderne, Paris 1927; deutsch: Die Krise der modernen Welt, Kölln 1950.

 

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